Interview mit Prof. Dr. Eberhard Hauschildt

„Die glaubwürdigsten Vertreter“

Berufstätige engagieren sich häufiger ehrenamtlich als Erwerbslose. Wer in der evangelischen Kirche allerdings eine leitende Position auf hoher Ebene übernehmen möchte, solle sich von seinem Vollzeitjob für eine gewisse Zeit verabschieden, meint Eberhard Hauschildt, Professor für Praktische Theologie an der Universität Bonn.


Wenn Wahlen zu Leitungsgremien in evangelischen Gemeinden anstehen, fällt der Gang zur Urne häufig aus, weil sich nicht genügend ehrenamtliche Kandidaten finden. Wie erklären Sie sich dieses Phänomen?

Grundsätzlich hat die Bereitschaft zugenommen, ein kirchliches Ehrenamt wahrzunehmen. Von daher ist es schon auffällig, dass die Beteiligung eher gering ist, wenn es darum geht, sich für die Wahl eines leitendenGemeindegremiums zur Verfügung zu stellen. Vermutlich hängt es damit zusammen, dass sich ehrenamtlich Engagierte oft für etwas einsetzen möchten, das ihnen akut dringlich und sinnvoll erscheint. Durch ihr Engagement möchten sie gern unmittelbar etwas bewirken. Wer dagegen in der Leitung einer Gemeinde mitwirkt, verpflichtet sich, diese Aufgabe auf Dauer wahrzunehmen, meist über mehrere Jahre. Man hat viel mit Organisations- und Verwaltungsaufgaben zu tun, was sich nur mittel- oder langfristig auswirkt.

Ist für Berufstätige, die einen Vollzeitjob ausüben, die Mitarbeit in gemeindeleitenden Gremien womöglich auch zu zeitaufwendig?

Ich glaube nicht, dass der zeitliche Aufwand abschreckt. Es hat eher damit zu tun, dass sich gerade Berufstätige vornehmlich für solche ehrenamtlichen Tätigkeiten interessieren, deren Aufwand sie zeitlich flexibel einteilen können. In gemeindeleitenden Gremien ist das nicht der Fall, wenn man an regelmäßige Sitzungen denkt oder Anliegen, die spontan an Mitglieder herangetragen und geklärt werden müssen.

Profitieren Ämter, Werke und Einrichtungen der Kirche, wenn Berufstätige ihre professionelle Erfahrung ehrenamtlich einbringen?

Sicher. In den vergangenen Jahren hat die Organisationsförmigkeit der Kirche zugenommen, und Personen beispielsweise aus Berufen im Verwaltungs-, Wirtschafts- oder Finanzbereich können diesbezüglich eine Menge einbringen. Aber sie machen auch die Erfahrung, dass die Kirche als Non-Profit-Organisation anders funktioniert als ein Betrieb. Sie erleben, dass sich Diskussionen in leitenden Gremien einer Kirchengemeinde lange hinziehen können, während sie es aus ihrem Job gewohnt sind, dass Entscheidungen zügig getroffen werden. Da kann eine gewisse Entfremdung eintreten. Andere Berufstätige wiederum erwarten, dass der Kirchenvorstand primär den Charakter einer geistlichen Gemeinschaft hat. Sie sind mitunter enttäuscht, wenn Entscheidungen förmlicher und verwaltungstechnischer Natur sind. Beides miteinander zu kombinieren, Organisationsentscheidungen zügig zu fällen und gleichzeitig den Wert der geistlichen Gemeinschaft zu pflegen, ist nicht leicht. Gemeindeleitende Gremien sollten sich Klarheit verschaffen, wie sie sich profilieren möchten.

Sind es eher die Berufstätigen oder eher die Nicht-Erwerbstätigen, also Jugendliche, Senioren und Arbeitslose, die sich in der Kirche ehrenamtlich engagieren?

Eher die Berufstätigen, also diejenigen, bei denen man davon ausgehen kann, dass sie am wenigsten Freizeit haben. Das gilt insgesamt für die deutsche Gesellschaft. Leider haben wir keine genauen Informationen darüber, wie es sich mit der Berufstätigkeit von ehrenamtlich Engagierten in der Kirche verhält. Über Altersangaben lassen sich aber Rückschlüsse ziehen: Etwas mehr als die Hälfte der ehrenamtlich tätigen Menschen in der evangelischen Kirche sind zwischen 31 und 59 Jahre alt. Bei dieser Altersgruppe von Engagierten ist davon auszugehen, dass der überwiegende Teil berufstätig ist.

Die Berufstätigen im Alter von 31 bis 59 Jahren haben vermutlich vergleichsweise wenig Freizeit. Wie ist es zu erklären, dass sie häufiger als Erwerbslose ein freiwilliges Engagement ausüben?

Bei den Berufstätigen sind zwei Gruppen zu unterscheiden: diejenigen mit Kindern und die ohne. Bei der ersten Personengruppe ist die Wahrscheinlichkeit relativ hoch, über die Kinder früher oder später in Kontakt mit der Kirche zu kommen – ob in einer Kita oder der kirchlichen Kinder- und Jugendarbeit. Wenn diese berufstätigen Eltern ein Ehrenamt übernehmen, dann hat es meist mit der Lebenswelt ihrer Kinder zu tun. Geselligkeit ist hier das leitende Motiv. Bei der Gruppe der kinderlosen Berufstätigen ist dagegen grundsätzlich eine gewisse Polarisierung mit Blick auf die Kirche zu beobachten: Man ist entweder sehr kirchenverbunden oder sehr kirchenfern. Ich vermute, dass dieser Hang zu einer extremen Position auch Auswirkungen auf das ehrenamtliche Engagement hat: Viele engagieren sich überhaupt nicht, für andere wird die Kirche zu einer Art Familie. Diese Personen sind hochengagiert und bringen viel Zeit für ihr Ehrenamt auf.

Welche Tendenzen sind aktuell bei den Nicht-Erwerbstätigen mit Blick auf das Ehrenamt zu beobachten?

Einen Zuwachs erleben wir bei den sogenannten jungen Alten, darunter viele der 68er-Generation, die gut ausgebildet, kritisch und sozial eingestellt sind, in den 1950er Jahren noch kirchlich sozialisiert wurden und jetzt vor dem Eintritt ins Rentenalter stehen. Bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist festzustellen, dass die Verkürzung der Gymnasialzeit auf acht Jahre und die Einführung von Bachelor-Studiengängen zu einem Einbruch von rund zehn Prozent beim ehrenamtlichen Engagement geführt haben. Die stärkere Belastung in Schule und Studium ist also in Konkurrenz zum ehrenamtlichen Engagement getreten. Und bei der Gruppe der Arbeitslosen herrscht schon seit jeher die Tendenz vor, sich wenigerehrenamtlich zu engagieren. Hier stehen andere Lebensaufgaben im Vordergrund. Auch der Bildungsgrad dürfte eine Rolle spielen; Menschen mit einem geringeren Bildungsgrad engagieren sich statistisch gesehen wenigerim Ehrenamt.

Sehr viele Ehrenamtliche sind derzeit in der Flüchtlingsarbeit aktiv. Sind darunter auch viele Berufstätige?

Das ist noch nicht erforscht. Vier Dinge kann man aber schon jetzt sagen: Das Engagement in der Flüchtlingsarbeit ist von einer akuten Notlage geprägt und von Bildern, die uns über die Medien erreichen: von im Mittelmeer ertrunkenen und an Stacheldrahtzäunen stehenden Menschen. In der medialen Gesellschaft hat das eine immense Wirkung erzielt. Eine wichtige Rolle dürften außerdem soziale Netzwerke gespielt haben, über die Gruppen zügig miteinander in Kontakt treten. Drittens gehe ich davon aus, dass die jungen Alten besonders aktiv sind, also die Alt-68er, die sich in den 1990er-Jahren für das Kirchenasyl starkgemacht haben. Viertens ist auffällig, dass sich viele Deutsche mit Migrationshintergrund in der Flüchtlingsarbeit engagieren. Bislang waren sie vergleichsweise wenig ehrenamtlich aktiv.

Welche Rolle fällt den hauptberuflich für die Kirche tätigen Mitarbeitern zu, wenn in Zukunft die Anzahl der Ehrenamtlichen noch weiter steigt?

Das Gewicht der Ehrenamtlichen hat deutlich zugenommen. Früher ist man davon ausgegangen, dass Ehrenamtliche dazu da waren, die Hauptamtlichen zu unterstützen. Heute würde ich die Perspektive umdrehen: Die Hauptamtlichen sind dazu da, die Ehrenamtlichen zu unterstützen. Der Begriff „Ehrenamtsmanagement“ wird dafür verwendet. Für die beruflich in der Kirche Tätigen wird es diesbezüglich immer mehr zur Aufgabe, Ehrenamtliche gut und verlässlich zu begleiten. Andererseits kann es auch problematisch sein, wenn Strukturen zu stark auf Ehrenamtlichen basieren. Denn sie können von heute auf morgen ihr Amt niederlegen. Außerdem gibt es keine Handhabe, sie dazu zu bewegen, eine Positionaufzugeben. Auch das wäre hier und da notwendig, um Entwicklungen nicht zu blockieren.

„Das Gewicht der Ehrenamtlichen hat deutlich zugenommen. Früher ist man davon ausgegangen, dass Ehrenamtliche dazu da waren, die Hauptamtlichen zu unterstützen. Heute würde ich die Perspektive umdrehen.“

Wie stark wirken Berufstätige, die sich freiwillig in der Kirche engagieren, in die Gesellschaft hinein?

Die Ehrenamtlichen sind die glaubwürdigsten Vertreter der Kirche. Wir haben ja auf der einen Seite die Hauptamtlichen, die Geld für ihre Tätigkeiten bekommen und in der Öffentlichkeit meist als Lobbyisten für ihre eigene Sache wahrgenommen werden. Wir haben zudem die passiven Kirchenmitglieder, die Schwierigkeiten haben zu sagen, was Glaube bedeutet und welchen Unterschied er im Alltag machen könnte. Die Ehrenamtlichen zeigen genau dies: dass es einen Unterschied macht, wenn man sich aus dem Glauben heraus engagiert und so in die Gesellschaft hineinwirkt. Wer sich so, ohne Geld dafür zu bekommen, engagiert, gibt ein besonders glaubwürdiges Bild von Kirche ab.

Ob Architekt, Bäckermeister oder Betriebswirt – ist es für Vollzeitberufstätige möglich, eine hohe Position innerhalb der evangelischen Kirche ehrenamtlich zu besetzen?

Theoretisch schon. Aber ich denke, wenn es um höhere und komplexe Verantwortungsbereiche geht, sollte man sich von der Idee verabschieden, dass diese Position ehrenamtlich neben einer Vollerwerbstätigkeit in einem anderen Beruf zu leisten ist. Es ist wie in der Politik: Wenn man leitende Funktionen in einer gehobenen Position ausübt, ist es kaum anders möglich, als dass sich diese Person über Jahre von ihrer sonstigen Berufstätigkeit verabschiedet. Auf Gemeindeebene mag es noch möglich sein, dass freiwillig Engagierte die Geschicke der Kirche vor Ort bestimmen. Aber schon auf der Ebene einer Landeskirche funktioniert das nicht mehr. Kirchenleitung ist ein Beruf, und wenn man jemanden in eine solche Position bringen will, muss man sagen: Dann darfst du dich von deinem Beruf für eine Weile verabschieden.

Wer kann sich das leisten?

Es ist auch hier nicht anders als in der Politik. Für viele bestehen erhebliche Hürden. Bei bestimmten Berufen ist so etwas leichter möglich – in höherem Alter oder wenn sich der Eintritt in den Ruhestand nähert. Vieles hängt von individuellen Umständen ab. Und die Zeit direkt nach dem Eintritt in den Ruhestand beim Erwerbsberuf kommt auch gut infrage.

Interview: Thomas Becker

Zur Person:

Eberhard Hauschildt ist Professor für Praktische Theologie an der Universität Bonn und Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland.

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