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Interview mit Margot Käßmann

„Die Menschen sind bereit, etwas zurückzugeben“

Das Ehrenamt in der evangelischen Kirche lässt sich nicht ohne die Theologie Martin Luthers denken. Margot Käßmann, Luther-Beauftragte der EKD, spricht über die Relevanz der reformatorischen Idee für die Kirche der Zukunft und die richtige Balance zwischen Tradition und Innovation.


Frau Käßmann, zur Papstwahl im Jahr 2005 titelte die Bildzeitung mit der Schlagzeile „Wir sind Papst“. Das sei, so sagten Sie kürzlich, „feinste lutherische Theologie“ gewesen. Was meinten Sie damit?

Luther hat gesagt: „Jeder getaufte Mensch ist Priester, Bischof, Papst.“ Für Luther war also die Taufe das entscheidende Sakrament eines jeden Christen. Die Priesterweihe ist im evangelischen Sinne kein Sakrament. Luther würde auch sagen: „Jeder kann dem anderen Priester sein.“ Soll heißen, jeder getaufte Christ könnte zur Not auch taufen oder das Abendmahl austeilen, wenn kein Pfarrer anwesend ist. Deshalb ist die Aussage „Wir sind Papst“ auch eine sehr lutherische, auch wenn ich mir natürlich bewusst bin, dass das nicht so gemeint war.

Luthers Theologie eines „Priestertums aller Getauften“ hatte im 16. Jahrhundert kirchenpolitische Sprengkraft, weil sie das Deutungsmonopol der katholischen Kirche angriff. Welche Rolle spielte diese Aussage in den letzten 500 Jahren protestantischer Kirchengeschichte?

Die Leitung unserer evangelischen Kirche ist nicht nur in der Hand von Bischöfen. Auch nicht-ordinierte Männer und Frauen leiten unsere Kirche auf allen Ebenen.

Außerdem hat sich 450 Jahre später auch die Überzeugung durchgesetzt, dass Frauen ebenfalls getauft sind und es überhaupt keinen Grund gibt, warum sie nicht zum Pfarramt oder zum Bischofsamt zugelassen werden sollten.

Luther hat die Bibel ins Deutsche übersetzt, weil er wollte, dass jeder Mensch lesen und schreiben lernt, damit er die Bibel selbst lesen kann. Die Aussage dahinter ist gerade im Moment wieder sehr wichtig: Du darfst selbst lesen, du darfst kritisch sein, sollst es sogar – auch gegenüber deiner Kirche. Auch in der Religion ist denken erlaubt.

Bild von Margot Käßmann

Margot Käßmann © Foto: Julia Baumgart/ekd

In der „Freiheit des Christenmenschen“ liegt auch eine immense Verantwortung, Kirche und letztlich Gesellschaft zu gestalten. Welche Herausforderung bedeutet das für die Prostestantinnen und Protestanten der Gegenwart?

Dazu fällt mir der berühmte Satz Martin Luthers ein: „Der Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemandem Untertan.“ In Glaubens- und Gewissensfragen ist jeder Mensch frei. Wir leben in einer Gesellschaft der Religionsfreiheit, dies zu erstreiten dauerte lange. Ein Mensch kann die eine Religion haben, eine andere oder keine Religion. Das kann weder der Staat noch die Kirche noch die Moschee-Gemeinde für den Einzelnen entscheiden.

Dem gegenüber steht Luthers Aussage: „Der Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann Untertan.“ Das heißt, der Mensch lebt nicht auf einer Insel als individualistisches Wesen, sondern ist gewiesen, sich mit seinen Gaben in das Gemeinwohl einzubringen. Denn – und das wäre auch wieder Luther: Jeder Mensch hat eine Gabe und damit eine Berufung und damit einen Beruf.

Mit dem Projekt „Zukunft Ehrenamt“ möchte die EKD einen Diskurs zum kirchlichen Ehrenamt anregen. Welche Rolle spielt das Ehrenamt für eine zukunftsfähige Organisationsentwicklung?

Ohne Ehrenamt gäbe es keine Kirche. Ich denke, dass es viele Aufgaben in der Kirche gibt, die ohne Ehrenamtliche gar nicht bewältigt werden könnten. Zum Beispiel in der aktuellen Flüchtlingskrise: Das kann die Diakonie nicht allein schaffen. Oder bei der Pflege, die kann nicht nur durch professionelle, bezahlte Kräfte getätigt werden. Wir brauchen Menschen, die bereit sind Zeit zu investieren, um andere zu begleiten. Wie in der Hospizarbeit: Ein sterbender Mensch braucht Zeit, wenn er aus christlicher Perspektive mit Zeit und Liebe begleitet werden soll. Das ist ökonomisch nicht zu verrechnen.

Ich weiß, dass manche Engagierte denken, dass in Zeiten, in denen weniger Geld für Hauptamtliche zur Verfügung steht, Ehrenamtliche aufgewertet werden. Da müssen wir genau aufpassen. Aber ich denke, künftig wird es in der Tat so sein, dass es Gegenden geben wird, in denen es relativ wenige Christen gibt, aber Gemeinde kann eben auch ohne Pfarramt existieren.

Wir müssen jedoch bedenken, dass sich die Menschen heute konkret engagieren, wenn ihre Fähigkeiten angesprochen werden und sie sich zeitlich nicht überfordert fühlen. Nicht die Kirche sagt, was sie braucht, sondern die Menschen wollen ihre Begabungen einbringen.

In der evangelischen Kirche werden weitreichende Entscheidungen auf allen Ebenen auch und vor allem von ehrenamtlich Engagierten getroffen. Kann Kirche überhaupt ein klares öffentliches Profil bekommen, wenn alle mitreden dürfen?

Dass alle mitreden dürfen, ist natürlich „typisch evangelisch“ und gehört bereits zum Profil der evangelischen Kirche! Ich finde es gut, dass nicht eine Person im Vordergrund steht, sondern dass die evangelische Kirche viele Gesichter hat. Es scheint natürlich leichter, wenn, wie in der römisch-katholischen Kirche, gesagt wird, hier ist der Papst, dort ist der Bischof und das ist die Kirche – aber das stimmt ja innerkatholisch auch nicht, da gibt es auch mehr Meinungen.

„Typisch evangelisch“ ist, dass selbst im Rat der EKD jemand mit einem ganz normalen Beruf, mitten im Leben stehend, die Leitung der Evangelischen Kirche in Deutschland mit wahrnimmt. In den Landeskirchen und Ortsgemeinden ist das genauso. Und warum auch nicht? Schließlich hat sich die reformatorische Bewegung in Deutschland auch von unten her durchgesetzt. Die Gemeinden fingen an mitzusingen und sich am Gottesdienst zu beteiligen.

Ich bin dafür, die Vielfalt viel klarer als unser Profil herauszuarbeiten und nicht die Sehnsucht nach einem einheitlichen Wort, Gesicht oder Ton der evangelischen Kirche zu schüren. Unter den Bedingungen der Mediengesellschaft befürchten manche, dass die evangelische Kirche nicht klar genug gehört und gesehen wird, wenn sie nicht mit einer Stimme spricht. Doch da finde ich, können wir sagen, es braucht gar keine Einheitlichkeit, sondern gerade das Ringen um den richtigen Weg macht uns lebendig und einladend für viele, sich zu beteiligen.

Die freiheitliche Grundordnung unserer Gesellschaft ermöglicht es, dass der andere anders sein darf und trotzdem den gleichen Respekt bekommt. Und wir sind eine Kirche, die gut in die Demokratie passt, weil sie die Vielfalt bewusst bejaht.

Unsere Zivilgesellschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend gewandelt. Trends, wie etwa eine zunehmende Beschleunigung und Verdichtung der Arbeitsverhältnisse, fordern auch das Ehrenamt heraus. Wie muss Kirche hier reagieren, um auch in Zukunft attraktive Beteiligungsstrukturen anbieten zu können?

Wir sehen aber auch in Umfragen – und das finde ich interessant –, dass Ehrenamt heute anders verstanden wird als früher, wo man einmal von der Kirche in Anspruch genommen wurde und dann ein Leben lang Kirchenvorsteher blieb. Die Umfragen ergeben, dass wir heute mehr projektbezogene Arbeit anbieten müssen, damit die Menschen sicher sein können, dass sie sich mit ihren Begabung einbringen können und dass der Zeitraum ihres Engagements begrenzt ist. Danach kann neu entschieden werden. Das entspricht dem Lebensgefühl der Menschen heutzutage mehr.

Die Flüchtlingskrise stellt unsere Zivilgesellschaft derzeit vor große Herausforderungen. Viele Menschen haben sich schon spontan im Sinne einer Willkommenskultur engagiert. Was muss getan werden, damit dieses Engagement auch im Alltag einer Zuwanderungsgesellschaft trägt?

Ich denke, wir müssen klarer herausarbeiten, dass die Hauptamtlichen die Aufgabe haben, den Ehrenamtlichen ihr Engagement zu ermöglichen. Gerade in der Flüchtlingskrise zeigt sich, dass viele Menschen helfen wollen. Ich erlebe es dennoch oft als frustrierende Erfahrung bei Menschen, wenn sie helfen wollen, aber nicht wissen, wie sie das anstellen sollen. Da meldet sich zum Beispiel jemand per E-Mail und erklärt sich bereit, einen minderjährigen Flüchtling zu begleiten, und dann bekommt er drei Monate lang keine Antwort. Das kann und darf nicht sein! Es muss klarer werden, dass Hauptamtliche die Aufgabe haben, den Ehrenamtlichen dabei zu helfen, ihr Engagement, das nur begrenzt sein kann, weil es eben ehrenamtlich ist, wahrzunehmen.

Die letzte KMU hat einen hoch engagierten Kern ehrenamtlicher MitarbeiterInnen identifiziert, die sich statistisch im letzten Lebensdrittel befinden. Muss sich eine Kirche der Zukunft nicht radikal verjüngen? Und wie kann das geschehen?

Ich finde das nicht schlimm und weiß aus eigener Lebenserfahrung: Junge Leute sind hauptsächlich damit beschäftigt, ihren Platz im Leben zu finden. Schule, Ausbildung, Studium – dann kommt die Rushhour des Lebens – Beruf, Familie, Kindererziehung. Später gibt es dann eine Phase im Leben, da sind die Kinder aus dem Haus, der berufliche Druck lässt nach, und du denkst: „Ich habe doch viel Erfahrung und Lebenssicherheit gewonnen, und ich möchte etwas davon an die Gesellschaft zurückgeben.“ Das Ergebnis der Studie ist aus meiner Sicht kein negatives Zeichen, sondern eher ein Zeichen dafür, dass Menschen auch bereit sind, etwas zurückzugeben.

Die EKD hatte 2008 das Reformationsjubiläum im Jahr 2017 zum Anlass für eine Luther-Dekade genommen – hinter uns liegen nun mittlerweile neun Jahre mit jeweils eigenen Themenschwerpunkten. Ist Ihnen Martin Luther eigentlich in dieser Zeit auch persönlich nähergekommen?

Auf jeden Fall! Zwar hatte ich bereits meine erste Kirchengeschichtsarbeit an der Uni über Luthers reformatorische Entdeckung geschrieben, doch habe ich im Verlauf der Luther-Dekade drei Facetten an ihm neu entdeckt. So hatte ich bisher den Seelsorger Luther wenig im Blick. In seinen Briefen habe ich den seelsorglichen, sensiblen Luther kennengelernt.

Ich habe mich auch viel stärker mit dem Antijudaisten Luther auseinandergesetzt. Das war eine Erfahrung, die durchaus befremdlich war.

Was mich erneut an Luther begeistert, ist seine unnachahmliche Sprachschärfe und Sprachkompetenz. Es gab gewiss andere bedeutende Reformatoren vor und neben Luther, aber das Charisma dieses sprachbegabten Mannes ist auch nach 500 Jahren in den Texten noch zu spüren.

Luther tritt an der Schwelle zu einem neuen Zeitalter auf. Heute neigt sich die „Gutenberg-Galaxie“ ihrem Ende zu und wird von einer „digitalen Moderne“ abgelöst. Wie sieht eine Kirche der Zukunft aus?

Sie muss die Balance finden zwischen Tradition und Innovation, das ist die größte Herausforderung. Die Menschen brauchen Wurzeln, sie können nicht ständig innovativ und mobil sein, sie müssen auch beheimatet sein, in einer Tradition, einer Kultur und auch in einer Gemeinde. Ich glaube, dass die Kirche da schon jetzt sehr viel anbietet.

Auf der anderen Seite muss die evangelische Kirche aber auch fähig sein, schnell zu kommunizieren und darf nicht schwerfällig und langsam hinterherhinken.

Interview: Sandra Kaufmann

Zur Person:

Professorin Dr. Dr. h.c. Margot Käßmann ist Theologin und Botschafterin des Rates der EKD für das Reformationsjubiläum 2017. Von der Universität Hannover wurde sie 2002 mit der Ehrendoktorwürde im Fachbereich Erziehungswissenschaften ausgezeichnet, und für ihr gesellschaftliches Engagement erhielt sie 2008 das "Große Bundesverdienstkreuz".